A FABRIC IN TURKEY RED

Auszug aus dem Performancescript, 2013/2020. Was live ab Papier, aus einem Buch, von einer Projektion, einer Folie, einem Glas oder nach Kopfhörern gesprochen wird, ist in Klarschrift gesetzt. Aufgezeichnete Stimmen, Tonaufnahmen oder Liedtexte sind kursiv gesetzt.

The spectacle begins …
The tragic heroine appears.
The public establishes a kind of empathy with her.
The action starts …
Suddenly, something happens that changes everything.
A radical change in the characters destiny.

Wie geht es den Unsichtbaren? Wie geht es uns?

Du bist gerade eben in den Raum gekommen und suchst noch einen Platz. Vielleicht bist du schon eine Weile hier. Du bist noch unterwegs. Vielleicht schaffst du es heute auch nicht.

Das ist der Ort, an dem ich arbeite.

Und das sind die Leute, mit denen ich arbeite.

            a schaut zu b

            während c und d

«Die Lohnarbeit von Frauen und Kindern war unerlässlich.»

«Entwurf für ein türkischrot gefärbtes Tuch mit fernöstlichen Motiven, 1836.»

Seine Produktion muss mit dem Streik das Jahr darauf zusammengefallen sein.

Was du hier siehst, ist der Entwurf für einen Stoff von 1836. Es ist der Entwurf für den Stoff, wie er sich heute erzählt, in einer Erzählung, von der das Meiste fehlt.

Im Drucksaal ist es stickig und heiss.

Die Tiere versorgen, vor Sonnenaufgang. Eines der kleinen Kinder ist krank, es wird spät. Durch den Schnee stapfen im Halbdunkeln.

            a und b stehen im Gegenlicht

Du bist noch unterwegs. Vielleicht schaffst du es heute auch nicht.

Links: «Die Streikglocke».

1837 lässt die Zeugdruckerei Trümpy eine Glocke anbringen und zum Arbeitsbeginn läuten; die Arbeiterinnen antworten mit einem Streik.

Dem ersten.

Du bist noch unterwegs. Vielleicht schaffst du es heute auch nicht.

«Die Lohnarbeit von Frauen und Kindern war unerlässlich.»                    

«Sowohl Dessins wie Farben mussten genau dem Original entsprechen, das auf einfache Weise im Ursprungsland hergestellt worden war. Absatzländer: Serbien, Bulgarien, Rumänien, Griechenland, Osmanisches Reich, Indien, Indonesien, China, später Westafrika.»

Sie sagt: die Halbmonde weisen auf Kundschaft in einem muslimischen Land hin, dass es vermutlich Indonesien sei, bestimmt nicht die Türkei, und vergleicht den Entwurf mit einem ähnlichen Muster.

Das Licht, die Hitze, das Wasser, die Farbpigmente.

Die Druckstube, die Ätze, der Bergbach, der Föhnwind.

Die Geheimrezepte für die Farbherstellung, eine ganze Bibliothek.

Die Musterbücher, riesige, sich auflösende Lederbände.

            a schaut zu b

            Während c und d

            a und b stehen im Gegenlicht

Sie hatten einfach genug.

Import von Kolonialwaren und Baumwolle für Italien und Zentraleuropa. Export von Indiennes, industriell produzierten Stoffdrucken, nach östlich inspirierten Vorbildern, Zeugsdruck. Verschiffung vom Freihafen Ancona und Triest. Musterbücher für alle Destinationen.

Wo sich der Stoff zur Skizze befinde: Das Museum sei weiterhin überlastet, meine Anfrage und all die anderen Anfragen zur Sammlung gefährden die Entstehung der nächsten Sonderausstellung, wird mir gesagt, während das gefundene Bild unter ihren Händen entsteht, während mein Bild von dir und dein Bild von mir unter ihren Händen entsteht.

«Ein Bild aus dem 19. Jahrhundert, das nachwirkt bis heute», unter ihren Händen entsteht, 18 Stunden am Tag, auch im Winter.

Viele Meterstunden lang auf das Muster geschaut, im Takt des Druckers. Die Farbe anrühren. Die Dromedare, die Tanzenden, die Dattelpalmen und Äffchen, die Halbmonde. Träume einer fernen fröhlichen Welt, – exotisiert oder Selbstbild? – die sie mitherstellt. Im Drucksaal ist es laut und heiss.

Wie Donnerrollen fährt der Schlag der Drucker durch den Saal. Bis zu 240 Schläge pro Minute.

Die Glocke führt die moderne Zeitmessung in die ländliche ein, die dich zwingt genau dann da zu sein, egal, was gerade ist. Deshalb der Streik.

«Als Folge des Streiks die erste Fabrikverordnung – weltweit. Welche nicht nur ein Mindestalter für Kinderarbeit festsetzt, sondern auch eine Beschränkung der Arbeitszeit für Erwachsene verfügt.»

Das Schiff läuft ein. Die Baumwolle bringt. Das Schiff gehört den Fabrikbesitzern, die Handelsniederlassung auch. Sie handeln direkt.

Die Fabrik ist abgebrannt.

In einem der vielen Brände, die der Föhnwind verursacht, der ansonsten die Tücher in den Hängetürmen so gut trocknet. Und die Scheiterhaufen der Hexenzeit.

Die Fabrik sei einfach so abgebrannt.

            c und d stehen etwas abseits

Die Schiffe laufen – seit ich es weiss, nach Libanon, Syrien, Konstantinopel. Indien, Indonesien. Die Schiffe laufen, seit ich es weiss, von Ancona aus.

Eine Platzhalterfigur, die für andere stehen kann, je nach Suchmethode und Sprachsystem.

Eine Platzhalterfigur, die eine Möglichkeit, eine Unterbrechung, eine Denkbewegung andeutet.

Das ist diffus – irgend jemand hat das doch hergestellt, achtzig Prozent Frauen und Kinder, wie es in der Statistik steht, ohne Fingerabdrücke zu hinterlassen.

Ich frage nach dir. Überall dort, wo ich dich vermute. Frage ich nach dir. Ich schlage Bücher auf und wieder zu. Lasse sie auf meinem Schreibtisch liegen, bis die Leihfrist abläuft.

            a greift zu einem freien Zeichen

Eine Figur aus dem Geschichtsunterricht.

Ich finde, wir sollten sie nacherzählen, um sie nochmals zu erzählen.

Eine Geschichte, in der die Heimarbeit der Spinnerinnen, das Klopfen an der Haustür, von Tür zu Tür, vom Druck der Modelklischees auf die Stoffe abgelöst wird. Eine Armut folgt der nächsten.

Ob es zwischen Druckvorlage, Bildmotiv, Auswanderung und Arbeiterinnenstreik einen Zusammenhang gebe, abgesehen vom zeitlichen und geografischen Zusammenfall von industriellen Produktionsmassen und massenhafter Auswanderung?

Eine Geschichte, deren Geschichten industriell, Schicht für Schicht, entstehen.

Die Tücher im Wind, um und in die aufgestockten Heugaden gehängt, die jetzt Hängetürme sind – in allen Farben und Mustern.

Auf eigenen Schiffen. Haben diese Schiffe auf den Strecken zwischen Tuchexport und Baumwollimport auch versklavte Menschen transportiert?

Weil eine gewisse Zeit mit einer anderen zusammenfällt. In der Statistik, da bist du erwähnt, da bist du eine unter vielen.

Die Fabrik ist dann abgebrannt, vor dem Heimatschutz gerettet und das Grundstück verkauft.

Ich suche nach dir, dem Muster und seiner Produktion entlang.

            a zu c: ein Loch, in diesem Geschichtsbeschrieb

Aber du bist doch von hier?

Unter anderem Kuhmist, Krappwurzel und heisses Öl. Söldner haben das Wissen über Farbherstellung, Exportwege und Absatzmärkte importiert und kapitalisiert. Die Farbrezepte, streng geheim.

Dromedare und Palmen tanzen im Föhnwind in langen Bahnen, um die Hängetürme herum, die eigentlich zu gross geratene Heugaden sind.

‹Made in China›

«Mehrere Firmen führten eine Handelsniederlassung in einer italienischen Stadt, in Wien, Bukarest, Istanbul, Beirut oder Bagdad.»

‹Made in Bangladesh›

«Gelungene Nachahmung javanischer Batik.»

‹Made in China›

«Yasmas mit Streifen und Blumenranken für den Export in die jetzige Türkei.»

‹Made in Bulgaria›

«Mehrere Glarner Druckereien verkauften ihre Batikartikel mit grossem Erfolg in Indien und Indonesien, später dann vorwiegend in Westafrika.»

‹Made in Indonesia›

«Musterbuch: Die Dessins verraten indischen Einfluss.»

‹Made in Vietnam›

«Es ist erstaunlich, mit welchem Anpassungsvermögen sich die Entwerfer in fremde Formen- und Vorstellungswelten einfühlten. Beispielsweise in javanische Batikmuster, in Kaschmirpalmetten oder islamische Rankendessins.»

‹Made in Vietnam›

«Stoff in persischem Genre.»

«Entwurf für ein Bildertuch.»

            ich gehe jetzt

            b: du gehst

Ich gehe jetzt.

Du gehst.

Eine Annäherung.

Annäherung an was?

Von Weitem eine Erinnerung, die genauso gewesen ist – auf Zeugen sei kein Verlass.

            c: In den Archiven kann ich nichts von dir finden, die Zeugen sind alle tot

Und dennoch könnte genau jener Moment, erzählt in deinen Worten, so entscheidend sein.

Eine Erzählung.

Die zwischen den Schlagworten und der Alphabetisierung hindurchgefallen ist.

Sie werden aus Armut auswandern – Wirtschaftsflüchtlinge. Sie nehmen sich Siedlungsland, was ihnen nicht gehört, während hier gerade die Involviertheit in die Sklaverei abgerissen wird.

            c: ist müde und möchte lieber morgen weiterproben

            a und b: brauchen dringend Geld

            d: hätte gerne eine tiefere Stimme im nächsten Stück, aber denselben Charakter

  • Augusto Baol, Theatre of the Oppressed, Urizen Books 1979
  • Wirtschaftswachstum dank Sklavenhandel? Die Rolle Schweizer Akteure im transatlantischen Dreieckshandel im 17.- 19. Jahrhundert, cooperaxion, Bern 2013
  • E-Mail-Korrespondenz mit dem Freulerpalast Näfels, 2013
  • Landesarchiv des Kantons Glarus, 2013
  • Wirtschaftsarchiv Schwanden, 2019
  • Eva Maria Belser, The White Man’s Burden. Labour and Human Rights in a Globalised World, Freiburg 2007
  • Jürg Davatz, Das Glarner Textilmuseum im Freulerpalast in Näfels, 1989
  • Emil Zopfi, Die Fabrikglocke, Limmat Verlag, Zürich 2004
  • Adolf Jenny-Trümpy, Handel und Industrie des Kantons Glarus, Historischer Verein des Kantons Glarus, Glarus 1898



A Fabric in Turkey Red
Das Inszenieren des Auffächerns, Gegenlesens und Findens von Handlungssträngen und Narrativen rund um die grossflächige Textilproduktion in den Glarner Alpen: Ein Tal, früh industrialisiert. Der erste europäische Fabrikarbeiterinnenstreik – ein Streik von Frauen und Kindern. Die letzte Hexenverfolgung auf dem Kontinent. Ein historischer Entwurf für ein zusammencollagiertes Druckmuster, betitelt als Ein türkischrotes Tuch mit einem fernöstlichen Motiv, 1836. Das unter ihren Händen entsteht. Aus dem Osten gestohlen, in den Osten exportiert, zirkuliert als Teil des Dreieckshandels.

Die Arbeit beinhaltet 240 Beats per Minute, eine Klangarchäologie, die auf historischen Beschreibungen der Geräuschkulisse der Textildruckfabriken basiert – der Klang der Holzschlegel, wie sie auf die Druckmodeln hämmern und mit 240 Schlägen pro Minute durch die Fabrikhallen donnern. Der Ausstellungsraum mit seinen neun Sekunden Verzögerung ist dabei Resonanzkörper.

Das Skript ist Teil einer kontinuierlichen, fortlaufenden Recherche, die Romy Nína Rüegger 2013 in Glarus, Näfels und Schwanden begonnen hat. Es wurde in Form von Installationen (ar/ge Kunst Bozen 2019 / Badischer Kunstverein, Karlsruhe 2020 / Shedhalle, Zürich 2021) und Performances (Kunsthof und Les Complices*, Zürich 2013 / YPA at Mixer Gallery, Istanbul 2013 / ar/ge Kunst, Bozen 2019 / Badischer Kunstverein, Karlsruhe 2020) und offenen Ateliers (Shedhalle, Zürich 2021) gezeigt, sowie als Script veröffentlicht (Archive Books, Berlin 2018 / Apparent Extent, Köln 2023) und als Audioarbeit herausgegeben (Apparent Extent, Köln 2023). Die Künstler:in arbeitet an einem neuen Werkkomplex, der im Rahmen der Klöntal Triennale 2024 gezeigt wird, basierend auf aktuellen Recherchen in Glarus, Schwanden, Diesbach, Ancona, Indonesien und Shanghai.