WAS KOMMT, WAS GEHT

Nicht weit von der Hauptstrasse fällt das Wasser vom Berg. Feine Wasserverwehungen. Das Wasser stäubt, schwebt, wird ins Tal gepustet. Und satt liegen die Wiesen.

Von der Hauptstrasse aus hört sie nicht, wie das Wasser auf den Felsen fällt, wie es rauscht und donnert. Aber sie hört das Knirschen der Tourist*innenautos, die auf der anderen Strassenseite vor dem Haus auf dem kleinen Parkplatz halten, sieht eine Touristin und einen Touristen die Hecktür öffnen, umständlich ihre Tagesrucksäcke hervorkramen, die Wanderschuhe montieren. Sie grüssen, zeigen dann mit den Fingern mal dahin, mal dorthin, und machen ein Foto von sich und der Landschaft.

Die Alpen türmten sich. Was waren das für Kräfte? Welche Geräusche waren zu hören, als sich die europäische Platte vor etwa 30 Millionen Jahren unter die afrikanische schob, Gestein sich aufbäumte, Wellen warf, sich Falten legten, die Landschaft drunter und drüber geriet?

Leicht gleitet ihr flacher Panzer durchs Wasser. Die Schildkröte Glarichelys knorri zieht eine sanfte Linkskurve, hebt den Kopf. Ihr Schwimmen gleicht einem Flug, die Flossen wie Flügel. Und von einer Eleganz, könnte man sagen. Und von einem noch jungen Alter, könnte man sagen. Und man möchte ihr zurufen, dass sie schneller schwimmen solle, dass Gefahr drohe. Glarichelys knorri hat die Gefahr aber vermutlich schon längst gespürt, vielleicht in Form von Erschütterung, vielleicht in einer Änderung der Strömungsverhältnisse, einem hörbaren Grollen. Die Lawine aus Ton und Sand schoss heran, Schlamm in unfassbarer Schnelligkeit, mit einer weiteren Linkskurve weicht sie der Gefahr aus, macht sich davon. Irgendwann aber hat es sie doch erwischt, vermutlich aufgrund von Krankheit. Der Kadaver sank auf den Meeresgrund, wurde dort von feinem Schlamm überschüttet, war geschützt vor gefrässigen Aasfressern, vor dem Zerfall. Wurde langsam festgepresst, Jahrmillionen lang. Bis sich der ozeanische Grund hob, bis inmitten der Schieferschichten die feinen Gerippe sich zeigten.

Eine Gruppe Tourist*innen taucht auf. Sie waren im anderen Tal, waren unter Tag, betrachteten dort die Schiefer­platten, liefen durch hohe Räume im ausgehöhlten Berg. Schwarz, glitzernd, teils von Kalzit- und Quarzadern durchzogener Stein. Und hörten der Bergwerks­führerin zu, und dachten an die andauernde Feuchtigkeit bis auf die Knochen der Arbeiter, an den Durchzug, die Kälte im Winter, die verlorenen Finger, an das Geräusch von Brecheisen am Stein, das Knacken im Gestein. Sie blickten hinein ins Innere der Erde. Waren dort in der Dunkelheit und ein bisschen froh nun alle, die roten Helme wieder abzugeben und wieder am Tageslicht zu sein, gesättigt vom Stollensteak mit Blick jetzt auf diese satten Wiesen, den Blick weiter ins Blau des Himmels. Beru­higend das Auto dort hinten auf dem Parkplatz noch stehen zu sehen, die Mög­lichkeit zurückzukommen, in ein gemütliches Zuhause, weit weg von der Geschich­te der Erdentstehung. Die Tourist*innen bedanken sich bei der Bergwerksführerin und auf der Heimfahrt schauen sie sich die Fotos an, die alle etwas dunkel sind, aber auch spektakulär.

In diesem Schieferbergwerk wurde vor vielen Jahren Glarichelys knorri freigelegt, weiss sie. Sie hat Glarichelys knorri in Zürich bereits besucht, sah sie in einer schönen Vitrine, war erstaunt, wie klein, wie fein sie ist.

Es kamen Tourist*innen oder Handels­rei­sende, Menschen, die zu tun hatten, hier im Tal, die in Zügen, Post- oder anderen Autos hierherkamen, mit Muskelkraft ihre Gepäckstücke aus den Autos, die Treppen hoch, in die Pensionszimmer hievten. 

Auch heute ist viel Bewegung im Tal, Tourist*innen reisen an, aber nicht nur Menschen. Der Leerstand lockt Ideen an, wird selber neu bespielt. Die einstigen Produktions- und Lagerhallen werden umfunktioniert, es wurden Pläne dafür geschmiedet: Ein Computerzentrum, das mit der Abwärme im benachbarten Gewächshaus medizinischen Hanf zum Wachsen bringen soll, ein Co-Working-Co-Living-Projekt mit grossem Gestaltungspotenzial. Beide Ideen fassten dann doch nicht Fuss. Der Leerstand harrt weiter, wartet auf neue Bewegung.

Neben den Schildkröten und vielen Fischen wurden auch drei Glarner Urvögel Protornis glaronensis im Stein gefunden. Auch sie waren, wie die Schildkröten und die Fische, wohl bereits tot, lagen als noch kaum verwesende Körper am Meeresgrund, als sich die Schlammschicht über sie legte, sie luftdicht umschloss. Im benachbarten Talmagazin liest sie, dass die fossile Vogelart «böse Menschen als ‹Glarner Gans› abtun wollten, die aber ein viel edleres Geflügel, nämlich ein Verwandter des Eisvogels ist.»

Ob nicht auch eine Gans durchaus ein edles Geflügel ist, fragt sie sich und betrachtet das Foto des Vogelgerippes, versucht sich die Bruchstücke als Ganzes zu denken, betrachtet dann das Bild des fossilen Kaninchenfischs, schaut immer wieder auf die Stelle, wo einst sein Auge war, wo jetzt ein Loch liegt. 

Der Bach fällt in einem dreiteiligen Wasserfall. Im ganzen Tal fällt das Wasser, fällt schon unzählige Jahre, fiel früher auf Wasserräder, erzeugte Strom für die Textilfabriken. 

147 Kilometer Glasfaser liegen verbaut, allein im ganzen Südteil des Kantons. Sie durchziehen den Untergrund, liegen in grauen Kunststoffröhren. In ihrem Innern: Daten in Lichtgeschwindigkeit. Durch die Wasserkraft der ehemaligen Textilindustrie war hier das Stromnetz gut ausgebaut, was das Verlegen der Glasfaserkabel erleichterte. Hier konnte bereits lange vor den landläufigen Grossanbietern ein gutes Kommunikationsnetz für Firmen angeboten werden. Ein bisschen aus der Not entstanden, da die landläufigen Grossanbieter in dieser Region nichts angeboten hatten. Pionierarbeit, könnte man sagen. 

Für die privaten Haushalte kommen die Glasfaseranschlüsse nun auch. Heute ist ihr Haus an der Reihe. Sie sitzt in der Küche und lauscht dem Bohrgeräusch, wird in wenigen Stunden vernetzt sein, bis in entfernteste Täler weltweit.

Sie wird ihre Nachrichten in diese entferntesten Täler schicken können. Und wenn aus diesen Tälern Nachrichten zurückkommen, dann wird sie sie fast zeitgleich, wie sie geschrieben werden, lesen können. Zeit und Raum, sagt sie, werden überlistet.

In dieser oder anderer Reihenfolge:
Es kamen die Jahreszeiten ins Tal, und über die Berge, jedes Jahr. Es kam die Hausweberei ins Tal. Es kamen nicht oft, aber anscheinend doch Seefahrer ins Tal, brachten Stoffe aus Indien, die Muster gefielen, wurden neu interpretiert. Es kamen Druckereien ins Tal. Es kamen Handwebstühle. Später kamen mechanische Webereien. Die Handwebstühle gingen. Es kam die Kartoffelfäulnis, es kam Armut. Und Menschen gingen, wanderten aus, gründeten New Glarus im US-Bundesstaat Wisconsin. Und später dann kam doch wieder Kapital ins Tal und es entstanden neue Fabriken. Die Zurückgebliebenen fanden nach und nach Arbeit. Und es kamen Spinnereien und Spindeln. Und Laufmeter um Laufmeter wurden produziert und verliessen das Tal. Und es kamen Arbeitskräfte nach Glarus. Und die Armut ging für einige. Und die Textilindustrie florierte, expandierte nach Italien. Es kam ein Hochdruckkraftwerk und eine elektrische Fernleitung vom Wasserfall bis zum Fabrikareal, es kam der Erste Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise, es kam der Zweite Weltkrieg. Es kamen und gingen Fabrikbesitzer und Technologien, es kamen neue Trends. Und nichts blieb beim Alten. Und Kordstoffe und Denimstoffe gelangten von Glarus aus europaweit und hoch hinaus.

Glarichelys knorri kam, Glarichelys
knorri ging.

Es war schon immer Bewegung im Tal, sie zieht durch die Jahrhunderte, sie schob Erdplatten ineinander, trieb Wasserräder an, drehte sich um Spindeln, gelangte in die Finger der Weber*innen und in die Finger der Glasfaserverleger*innen, sie ist so schnell wie Wasser und so schnell wie Licht. 

Da türmen sich die Schieferplatten, dort ein Hohlraum wie eine Kathedrale, ein Echo, ein Hallen. Die Tourist*innen sitzen in den Bussen, Autos, in den Zügen, sind noch gefangen in der Faszi­nation, in Gedanken noch beim Berg, streichen ein Foto weiter und gelangen zur Heiligen Barbara, die in einem Schieferaltar steht und über den verwaisten Stollen wacht. Am Abend, wenn sie wieder zuhause sind, werden die Wandersocken Abdruckstreifen um ihre Waden hinterlassen haben.

Sie fegt die zwei Steinstufen vor ihrer Eingangstür. Hört Räder knirschen, beobachtet eine Touristin, die aus ihrem Auto steigt, eine Wanderkarte auf ihrer Motorhaube ausbreitet und lange studiert. Gleich wird sie zu ihr rüberkommen und nach dem Weg fragen, denkt sie und sieht sich selber schon ihr Smartphone zücken, mit ihrem Finger auf dem kleinen Monitor den Weg entlanggleiten.

Als sie am Morgen erwacht, erinnert sie sich bruchstückartig an ihren Traum: Sie floss mit Datenströmen durch eine graue Kunststoffröhre. Auch die Meeresschildkröte Glarichelys knorri war da. Sie winkte mit ihrer Flosse, gab ihr ein Zeichen, das sie nicht verstand.

Die Autorin dankt für Gespräch und Informationen: Dennis Hansen, Torsten Scheyer und Heinz Furrer

Literatur: Furrer, H. & Leu, U. (1998). Der Landes­plattenberg Engi. Forschungsgeschichte, Fossilien und Geologie. Stiftung Landesplattenberg Engi.