STADT-LAND-DISKUSSION: AUSGEDIENT

Seit fünfzig Jahren bemüht sich die Schweizer Politik, Ungleichgewichte zwischen Stadt und Land auszugleichen, dies mit der Regionalpolitik, aktuell unter dem Programmtitel «Neue Regionalpolitik (NRP)». Diese Bemühungen sollen durchaus wahrgenommen werden, sofern sie Neues ermöglichen. Die klassischen Stadt-Land-Klischees sollten dabei – dies die Sicht eines Glarner Regionalpolitikers – überwunden werden.


Die Randregionen als Kostenfaktor

Auch in der kleinen Schweiz brechen zwischen den Zentren und der Peripherie immer wieder Interessenskonflikte auf, selbst in Zeiten, in denen regionalpolitische Fragestellungen nicht im Mittelpunkt der politischen und gesellschaftlichen Diskussion stehen. Es braucht nur ein paar Murgänge und Hochwassersituationen in den Alpen, und gleich kommt die Frage (wieder) auf, ob die Schweiz einen Teil ihrer Alpentäler aufgeben soll. Bei Avenir Suisse heisst dies: «Wir werden wohl nicht darum herumkommen, einzelne Siedlungen aufzugeben.» Reinhard Steurer, Professor für Klimapolitik an der Universität für Bodenkultur in Wien, prognostiziert, dass man gewisse exponierte Alpentäler teilweise aufgeben müsse. «Die Infra­struktur wird dort öfter zerstört werden, als man sie wieder aufbauen kann.» (NZZ am Sonntag, 29. Juni 2024) Die Präsidentin der Regierungskonferenz der Gebirgskantone, Carmelia Maissen, konterte umgehend: «Wir werden sicher keine ganzen Täler aufgeben», und warnt vor einer «verkürzten und zynischen Sicht» auf die Umsiedlung von Alpentälern. (Tages-Anzeiger, 7. Juli 2024)

Die Klima- und Wetterdiskussion wird reflexartig auf die Stadt-Land-Diskussion übertragen oder gar reduziert. Unwetter fluten auch Innenstädte in der urbanen Schweiz, kappen Stromnetze oder legen den Flugverkehr lahm. Doch es sind die Randregionen, die vor allem als Kostenfaktor gesehen werden. Die Rechnung erfolgt jedoch einseitig und punktuell, nicht-monetäre Faktoren werden gar nicht erst berücksichtigt.

Die Alpine Brache als Denkanstoss

Bereits anfangs dieses Jahrhunderts stritt die Schweiz über die Frage, ob Teile der Schweiz «aufgegeben» werden sollten, dies jedoch mit ganz anderem Hintergrund. Das ETH Studio Basel, unter anderem mit den vier Architekten Roger Diener, Jacques Herzog, Marcel Meili und Pierre de Meuron sowie dem Geografen Christian Schmid erstellten nach umfassenden Analysen der ungleichen Entwicklung der Schweiz im Jahre 2005 ein «städtebauliches Portrait» mit ungewohnten Konzepten und Denkanstössen, wohl sehr konzeptionell und abstrakt, aber dennoch anregend, wenigstens dann, wenn die Realität nicht ganz «aussen vor» gelassen wurde. 

2013 verfassten Franziska Singer und Christian Mueller vom ETH Studio Basel aufgrund ihrer Diplomarbeit eine Studie zu Glarus Süd, die Möglichkeiten der Alpinen Brache aufzeigten. Rahel Marti, stv. Chefredaktorin, kommentierte diese 2013 in der Hochparterre-Themenausgabe zu Glarus Süd mit kritischem Blick. Acht Jahre nach der ersten These des ETH Studio Basels und der Identifikation von Alpinen Brachen hielten die Basler noch immer an ihrer Analyse fest. Obwohl die Wogen bereits 2005 hochgingen, ergänzten sie nun mit einem Entwurf, «Ideen also, was werden könnte in der Alpinen Brache Glarus Süd. Doch: Grossalp im Sernftal? Alte Fabriken und Wald im Grosstal? Das soll die Zukunft von Glarus Süd sein? Man kann das Glarner Poltern schon fast hören: Realitätsfern! Verachtend! Denn in Glarus Süd ist doch alles intakt und normal: Der Service Public läuft. Die Arbeitslosenzahlen sind kaum höher als anderswo.» Doch Marti betont auch die problematischen Seiten der Gegend, die Stagnation oder sogar Abnahme von Wirtschaft, Bevölkerung und Tourismus, die leeren Gemeindekassen. Das ETH Studio Basel habe daraufhin nach den Stärken gesucht. «Ihr Befund ist klar. Die Landschaft ist das grosse Kapital. In den Agglomerationen des Mittellandes wird diese Ressource knapp. Glarus Süd dagegen sitzt auf Bergen davon. Nahe bei Zürich.» Auch wenn Marti in der Studie einige Schwachpunkte sieht, unterstützt sie die Stossrichtung, nämlich dass die wertvolle Landschaft von Glarus Süd tatsächlich das grösste Potenzial der Region sei – im Grosstal mit den Industriedenkmälern und im Sernftal mit den noch kaum verbauten Hängen und Alpen der Berglandwirtschaft. «[…] das ist der Rohstoff von Glarus Süd. Daraus kann die Gemeinde Spielräume für eine eigenständige Entwicklung schöpfen – Räume zum Arbeiten und Wohnen, Räume für die Erholung.»


Fünfzig Jahre Regionalpolitik 

Die klassisch definierte schweizerische Regionalpolitik gibt es seit fünfzig Jahren. Die Anfänge der Regionalpolitik finden sich jedoch schon 1848. Das Zweikammersystem, das Ständemehr, die (nicht mehr streng eingehaltene) Kantonsklausel bei den Bundesratswahlen, die zwischenzeitlich entstandene Land­wirtschaftspolitik und andere Sektorialpolitiken, der Finanzausgleich wie auch Massnahmen beim Service Public – all dies ist Regionalpolitik. Nach verschiedenen partiellen Aktivitäten erfolgten 1969 zwei parlamentarische Vorstösse (Brosi/Danioth), die 1974 zum Investitionshilfegesetz (IHG) für Berggebiete samt Schaffung einer Zentralstelle für die regionale Wirt­schaftsförderung führten. Daher wird das Jahr 1974 als Geburtsjahr der eigentlichen schweizerischen Regionalpolitik gesehen. Dem Namen des Gesetzes entsprechend ging es in den ersten dreissig Jahren darum, in den strukturschwachen Regionen die notwendigen, zeitgemässen (öffentlichen) Infrastrukturen aufzubauen. 

2008 erfolgte dann ein grundlegender Wandel. Die Regionalpolitik als «Neue Regionalpolitik (NRP)» fokussierte sich auf die Förderung von Innovationen, Unternehmertum und Wertschöpfung. Alle acht Jahre erfolgten grundlegende Anpas­sungen. Für die dritte Mehrjahres­periode (2024–2031) wurde vom Parlament 2023, nebst der Unterstützung des Tourismus und der Industrie, neu auch diejenige von Kleininfrastrukturen gutgeheissen, wobei der lokalen Wirtschaft, der nachhaltigen Entwicklung und der Digitalisierung besonderes Gewicht zuzusprechen sei.

Stadt und Land im Dialog?

Die nationale Netzwerkstelle für Regionalentwicklung in der Schweiz, Regiosuisse, feiert die fünfzig Jahre Regionalpolitik als Erfolgsgeschichte. Daneben sieht die ebenso wichtige Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Berggebiete (SAB) die Regionalpolitik als Impulsgeberin, die zahlreiche bedeutende Vorhaben erst ermöglicht hatte. Dennoch lässt aufhorchen, dass bei dieser langjährigen Regionalpolitik der Slogan «Stadt und Land im Dialog» mit vielen Fragezeichen versehen wird, was sich der Einladung an eine breit abgestützte Tagung entnehmen lässt: 

«Bei politischen Geschäften wird in der Öffentlichkeit gerne von Gräben gesprochen. Der Stadt-Land-Graben und der Rösti-Graben sind die wohl bekanntesten Gräben. Doch existieren sie wirklich oder handelt es sich schlicht um Vereinfachungen von komplexen Sachverhalten? Sind Stadt und Land in der kleinen Schweiz nicht zu stark miteinander verzahnt, um sie auseinander zu dividieren? Welche Bestrebungen verfolgen der Bund und die Kantone, um den Zusammenhalt von Stadt und Land in der Schweiz zu fördern? Wie können Abhängigkeiten vermieden und die Berggebiete und ländlichen Räume gestärkt werden? Welchen Beitrag leistet dazu beispielsweise die Regionalpolitik des Bundes, die im Jahr 2024 genau seit fünfzig Jahren besteht? Mit welchen konkreten Projekten können der Dialog und die Zusammenarbeit zwischen Stadt und Land noch stärker gefördert werden?»

Auch bei der Bundesfeier auf dem Rütli steht 2024 die Förderung des Dialogs zwischen Stadt und Land im Zentrum. Die Schweizerische Gemeinnützige Gesell­schaft (SGG) organisierte die 1. August­feier zusammen mit den zwei politischen Schwergewichten in Stadt-Land-Fragen, dem Schweizerischen Städteverband (SSV) und der Schweizerischen Arbeits­gemein­schaft für die Berggebiete (SAB). Hoffen wir, dass dieser Dialog zur Norma­lität wird und nicht nur als Jubiläums-Slogan dient.


Badezimmer und ein UNESCO-Label

Die Schaffung von Badezimmern und das Label UNESCO-Welterbe sind beides Resultate der Regionalpolitik. Doch fangen wir von vorne an, im Jahre 1969: «Die Gründung der Regionalplanungsgruppe Glarner Hinterland-Sernftal erfolgt aus der Sorge um die rückläufige Entwicklung der beiden Talschaften: Entvölkerung, Überalterung, zum Teil fehlende Infra­struktur, Verkehrsprobleme, die Forderun­gen des Landschafts- und Heimatschutzes und damit auch die schwierige Lage der kleinen Gemeinden in finanzieller und personeller Hinsicht …», schreibt Hans Zopfi, der damalige Gemeindepräsident von Schwanden und die zentrale Person der aufkommenden Regionalpolitik. Somit war das südliche Glarnerland sehr früh regionalpolitisch aktiv. Die kantonale und nationale Förderungswürdigkeit war jedoch Resultat eines zähen Ringens und die offizielle Anerkennung erfolgte erst 1974. Somit wäre die Region Glarner Hinterland-Sernftal 2024 fünfzig Jahre alt geworden, wie die nationale Regionalpolitik. Wäre? Durch einen Landsgemeindeentscheid von 2006 gibt es im Kanton Glarus seit 2010 nur noch drei Gemeinden, Glarus, Glarus Nord – und die 13 (ursprünglich 17) Gemeinden der Region Glarner Hinterland-Sernftal wurden zur Einheitsgemeinde Glarus Süd. Der Regionsverein wurde abgeschafft.

Von 1974 bis 2010 konnte in Glarus Süd ein Grossteil des strukturellen Nachholbedarfes umgesetzt werden, allein in den ersten zwanzig Jahren mit gegen hundert Infrastrukturprojekten: Wasserversorgungen und Kanalisationen, Bach- und Lawinenverbauungen, Schul­räumlichkeiten, Mehrzweck- und Sport­hallen, Altersheimen, Dorfläden, Fernsehumsetzer et cetera. Ergänzend gab es Unterstützungen für Private, um zum Beispiel Badezimmer in ihre Wohnhäuser einzubauen – zur damaligen Zeit keine Selbstverständlichkeit. 

Ab 1997 folgte das Programm «RegioPlus», um den Strukturwandel zu stärken. Daraus entstand der Geopark Sardona, dessen Kerngebiet 2008 als Tektonikarena Sardona als UNESCO-Weltnaturerbe anerkannt wurde. Selbst wenn die direkte Wertschöpfung beschränkt blieb, wurde dieses UNESCO-Label in vielen (touristischen) Bereichen prägend und stärkte die Position des (südlichen) Glarnerlandes.

Ab 2008 löste das Programm «Neue Regionalpolitik (NRP)» den Fokus auf Infrastrukturprojekte ab. Dafür lancierte der Bund unter anderem das «Pilotprojekt NRP Glarus», das bereits wichtige Eckpunkte für die spätere Gemeindestrukturreform im Kanton Glarus aufführte.


Was erstaunen mag

Die schweizerischen regionalpolitischen Akteur*innen sind weiterhin überaus aktiv und präsent. Der Kanton Glarus, insbesondere die Gemeinde Glarus Süd, sammelte viel Erfahrung im Bereich der Regionalpolitik. Es erstaunt hingegen, wie sich der Kanton Glarus schwertut, diese Kenntnisse für sich umzusetzen. Ob das damit zu tun hat, dass mit der Reduktion auf drei Gemeinden die Region unterging? Die Regionsarbeit wurde hinfällig, deren Aufgabenbereiche aber nicht. Es ist zu hoffen, dass das «NRP-Mehrjahresprogramm 2024–2031» mit den neuen Schwerpunkten Kleininfrastrukturen und lokale Wirtschaft die Glarner Gemeinden und den Kanton Glarus wiederum aktiver werden lässt. 

In Glarus Süd kann es nicht der Regional­politik (oder Standortförderung) angelastet werden, dass in den vergangenen Jahren kaum innovative Projekte umgesetzt werden konnten. Auch wenn Glarus Süd mit 10 000 Einwohner*innen eine beschränkte Grösse aufweist, darf sich die Anzahl der Ideen und Projekte durchaus sehen lassen, sogar als phänomenal bezeichnet werden. Einige Beispiele: Umnutzung alter Fabrikareale zu Hotel- und Wohnanlagen, zu Co-Working-/Living-Stätten, zu Bitcoin-, Solarzellen-, Insekten- oder medizinalen Hanffabriken, ein Automobil-Museum, neue innovative Wohn- und Tourismusanlagen, ein Musikhotel, ein Golfplatz. Erstaunlich ist, dass sinnvolle Projekte liegengelassen oder gar aktiv verhindert werden und deshalb kaum ein grösseres Projekt umgesetzt werden konnte.

Doch zeigt sich noch ein ganz anderes erstaunliches Phänomen, das zwar zu vielen Projekten führt, die die Stärkung von Glarus Süd zum Ziel haben – die in der Folge jedoch nicht umgesetzt werden. Der begrenzte Perimeter von Glarus Süd eignet sich sehr gut als Studienobjekt. Einige Kooperationen mit Studierendenarbeiten oder auch Studien mit den Betroffenen vor Ort ermöglichen viele gut gemeinte, konkrete Projekte zur Rettung von Glarus Süd auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Der Haken: Ist man für die Umsetzung solcher Projekte endlich startbereit, sind die Projektverfassenden weit weg und die Betroffenen haben den Faden verloren.

Daneben bringen globale Ereignisse unverhofft Schwung in eine jahrelange stagnierende Entwicklung – auch im Kanton Glarus. So geschehen mit der Corona-Pandemie. Es wird sich zeigen, wie nachhaltig diese Veränderungen sind. Es gibt neue Bewohner*innen. Teilweise bilden sich spannende neue (urbane) Cluster. Die Schüler*innenzahlen steigen, selbst in Glarus Süd. Neue Arbeitsweisen (Homeoffice, Mountain Hub, Multilokali­tät) halten Einzug. Und weniger erstaunlich – die Corona-Pandemie hat im Kanton Glarus auch zu merklich höheren Miet- und Immobilienpreisen geführt. 

Es muss und kann nicht alles gemacht werden. Nicht jedes Projekt würde die erhofften Resultate bringen. Aber nichts tun, nichts tun können, das bringt auch nichts.


Hat der klassische Stadt-Land-Begriff ausgedient?

Selbstverständlich gibt es Eigenarten, die den Zentren zugeordnet werden können und andere der Peripherie. So soll es auch sein und bleiben. Doch wertfrei betrachtet, sind die städtischen Bedingungen weder besser noch schlechter als die ländlichen, sondern einfach anders. Auch wenn vielleicht etwas an den einen Orten einfacher und an anderen Orten schwieriger oder gar nicht umsetzbar ist. 

Der Bericht des Rates für Raumordnung (ROR) von 2023 betrachtet die Verän­derungen zwischen Zentren und der Peripherie und zieht Konklusionen. Vertiefungen sind im Text «Wenn Peri­pherien zu Zentren werden» (Brandner/ Bürgin/Mayer, S. 237) nachzulesen. Der dort aufgeführte Perspektivenwechsel wird mit der Schaffung von fünf Peri­pherie-Typen vorgenommen. Wieso jedoch das klischeebehaftete Begriffspaar «Zentrum – Peripherie» nicht gleich abschaffen oder auf einen technischen Raumplanungsbegriff zurückstufen? Lebendige (oder lebenswerte) Regionen sind doch das Ziel, unabhängig davon, ob diese nun urban oder peripher sind. Jede Region oder gar jeder Ort hat seine ihm eigenen Rahmenbedingungen und Potenziale. Diese gilt es einerseits zu respektieren und andererseits einzusetzen, um alle Energien zur Schaffung von lebenswerten Regionen aufzuwenden.


Vieles geht in die richtige Richtung.

In den Köpfen wird es jedoch noch Jahrzehnte dauern, bis das «Helfer*innen­syndrom» als Reaktion auf das Klischee von der abgehängten und benachteiligten Peripherie und die diesbezüglichen Missverständnisse verflogen sein werden. Die Slogans «Stadt und Land im Dialog» und «Lebendige Peripherien in der Schweiz: Transformation gemeinsam gestalten» dürfen keine Floskeln bleiben. Von Zürich nach Glarus ist es gleich weit, wie von Glarus nach Zürich.